Im Stainer-Dickicht – oder: Von der Schwierigkeit der Biografie

Kein Geburtsdatum, kein Sterbedatum, kein Grab, kein Ausbildungsort, keine Ausbildung – und trotz dieser vielen Unbekannten seit ca. 180 Jahren detailliertes Wissen über Jacob Stainer in Tirol und anderswo?

Ein Beispiel für die ins Absurde reichenden Stainer-Konstruktionen in der deutschen Musikwissenschaft Mitte des 19. Jahrhunderts findet sich in einem Beitrag Jakob Stainer, der erste deutsche Meister im Geigenbau von Friedrich Oka in der Neuen Berliner Musikzeitung von 1854: „Bekanntlich ward Jakob Stainer zu Absam nahe bei Hall in Tyrol 1620 geboren, und hat um 1631 bei Antonius Amati zu Cremona die Geigenbaukunst erlernt. Nach Art der Hirtenknaben in Tyrol schnitzte Jakob im Winter allerlei niedliche Holzspielsachen, die er dann in der milderen Jahreszeit weit und breit zum Verkauf herumtrug. Dadurch hatte er schon früh ein Stückchen Welt gesehen und dabei zu Nutz und Frommen seiner Schnitzarbeit fein aufgeschaut und Manches nachgeahmt, was über das Gewöhnliche hinauslief. Er war etwa fünfzehn Jahr, als er mit einem andern Hirtenbuben seine Waaren auch in Italien feilbot, bis nach Cremona und daselbst in die Werkstatt des wackeren Meisters im Geigenbau, Antonii Amati, kam. […]“

Hätte Jacob Stainer so ungenau und unpräzise wie zahlreiche seiner Biografen gearbeitet, wären seine Instrumente bestenfalls für Katzenmusik geeignet gewesen.

Schon Sebastian Ruf (Ruef) – der zu Unrecht vergessene Tiroler Intellektuelle des 19. Jahrhunderts – musste vor über 150 Jahren angesichts des schon damals wuchernden „Stainer-Schrifttums“ vernichtend bilanzieren: „Über keinen Künstler Tirols wurde von jeher so viel Falsches und Unwahres verbreitet, als über den berühmten Geigenmacher Jacob Stainer von Absam.“

Und auch noch im 20. Jahrhundert resümierte der Musikwissenschaftler Walter Senn ernüchtert: „Stainer und die Literatur sind wahrlich ein Kapitel für sich! Mündliche Überlieferungen, Vermutungen, Dichtungen, richtig und mißverständlich ausgelegte Urkunden, üppige und weniger üppige Phantasie, ja sogar Druckfehler – alles dies vereinigt sich zu einer Mischung, die im Laufe der Zeit ein fast undurchdringliches Dickicht über die verbürgten Nachrichten zu Jakob Stainers Leben gelegt haben.“

In einem Film aus dem Jahr 1970 mit dem Titel Jakob Stainer – oder: Von der Schwierigkeit der Biografie kommentiert Senn alle Fragen nach Stainers Geburtsdatum, Ausbildung, Lehrern und Sterbedatum desillusioniert: „Gesichert ist überhaupt nichts. Alles, was wir sagen können, sind Vermutungen.“ Und er macht darauf aufmerksam, dass der erste Beleg für einen Geigenbauer Jacob Stainer aus Absam erst aus dem Jahr 1644 stammt: eine Rechnung über ein Honorar, das Stainer in Salzburg für die Reparatur und den Bau von Instrumenten erhalten hat.

Eine Erinnerungstafel der besonderen Art an der Nordwand der Kirche in Absam: falsche Lebensdaten, ein politisch gefärbtes Urteil und ein Aufstellungsort, der nahelegt, an dieser Stelle sei Stainer begraben. (Foto: Matthias Breit)

Polizeiliche Ermittlungen

Für Stainers Biografie – im heutigen Sinn des Wortes – hat sich erst mehr als einhundert Jahre nach dessen Tod jemand näher interessiert: Um 1790 ‚ermittelte‘ Benedict von Sardagna, k. k. wirkl. Regierungsrath und Referent bei der obersten Polizey- und Censur-Hofstelle, damals Kreisamts-Sekretär in Schwaz, privat in dieser Angelegenheit. Seine Auskunftsperson war der damalige Absamer Pfarrer, der alles, was in Absam an mündlicher Überlieferung bekannt war, für Sardagna dokumentiert hat. Sardagnas Notizen waren zunächst nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Im Gegenteil, dieses „Studium, besonders seines interessanten Vaterlandes“, war schon damals seine „Lieblings-Erholung“ von den Berufsgeschäften als Staatsdiener. Ganz im Stil des peinlichen polizeilichen Ermittlers, nicht des forschenden Historikers, hält er fest: „Wo und wann er [Stainer] geboren ist, ist unbekannt; daß er von Absom geboren ist, lässt sich muthmaßen, aber nicht erweisen, da die Taufbücher der dortigen Pfarre soweit in die Vorzeit nicht zurückreichen. […] Das Jahr seines Todes ist wieder nicht genau bekannt, weil die Sterbebücher von Absom noch viel später als die Taufbücher beginnen.“ Auch nach heutigen wissenschaftlichen Maßstäben völlig korrekt, nämlich die Erinnerung als Quelle seiner Aufzeichnungen offenlegend, schreibt Sardagna: „Einer Sage nach hat Stainer das Geigenmachen zu Venedig gelernet.“ Diese privaten Aufzeichnungen Sardagnas wurden 1822 im Bothen von und für Tirol und Vorarlberg abgedruckt. Vorausgegangen war dieser Publikation eine „Aufforderung zu Nachrichten von dem berühmten Geigenmacher Jakob Steiner“.

Das erste literarische Werk, das am Beginn zahlreicher „Meistererzählungen“ über Stainer steht, verfasste der Beamte und spätere Herausgeber des „Bothen“ Johannes Schuler 1828. Er konstruierte aus den von  Sardagna aufgezeichneten Erinnerungen seine inzwischen vergessene Novelle Jakob Stainer und liefert damit eine Art Stainer-Baukasten für viele spätere Werke, in denen seine fiktiven Elemente immer wieder zu neuen sinn- und vor allem biografiestiftenden Kombinationen zusammengebaut sind.

Bausteine zu einer Identität I: Tiroler Gemüth

Die historisch belegte Bedeutung von Stainers Instrumenten genügte im Zeitalter des Nationalismus nicht mehr – eine Identität für Stainer im weiten Feld von Nation und Geschichte musste formuliert werden – Eckpfeiler einer solchen Konstruktion konnten sein: Genie, Wahnsinn, Armut, Liebe und – besonders wichtig – nationale ‚Bestimmung‘.

Beispielhaft dafür ist eine literarische Bearbeitung der von Sardagna aufgezeichneten ‚Erinnerungen‘ an Stainer als im Alter dem ‚Wahnsinn‘ Verfallenen: 1792 wurde Sardagna im Stainerhaus in Absam das Fragment einer hölzernen Sitzbank präsentiert. Da sie nur mehr in Teilen erhalten war, entsprach diese Bank ideal den Authentizitätserwartungen, die im beginnenden Museumszeitalter an historische Objekte angelegt wurden. Die Legende zur Bank besagt, dass Stainer „die letzten Jahre in dem Grade wahnsinnig war, daß er gebunden werden mußte. Man zeigt in seinem Hause zu Absam an einer hölzernen Bank noch ein Loch, das in der Absicht gemacht worden seyn soll, um durch dasselbe ihn anzubinden.“ Im Jahr 1834, also rund vierzig Jahre nach Sardagna, wird diese Absamer Erinnerung von August Lehwald im damals führenden deutschen literarischen Unterhaltungsorgan, im Morgenblatt für gebildete Stände, mit der Sage von Stainers Ausbildung in Venedig kombiniert und daraus ein neues Motiv formuliert: „Eines war allen seinen Freunden klar geworden: Er hatte des Menschen kostbarstes Eigenthum, seine Seelenruhe, in Italien eingebüßt: er hatte sein Tiroler Gemüth dort verwechselt gegen den finsteren Sinn der Italiener.“ Diese Titelgeschichte zeigt, wie eine Erinnerung an Stainer verändert wird, indem die aktuell herrschenden Vorstellungen von Nation nachträglich der Vergangenheit übergestülpt werden.

Verfügbare kulturelle Szenarios: Vater der deutschen Geige…

Als 1848 die Revolution scheiterte, die Fürstenmacht war nicht gebrochen worden, feierte die fiktiv gebliebene deutsche Nation vor allem auf dem Gebiet der Kultur ihren Siegeszug. So wird 1854 Stainer im Bericht der Beurtheilungs-Commission bei der Allgemeinen Deutschen Industrie-Ausstellung zu München zum „Vater der deutschen Geige“ erklärt. Verantwortlich dafür war unter anderem Karl Emil von Schafhäutl, Münchner Physiker und Geologe, der in seiner Freizeit als Musikkritiker und -forscher tätig war. Ein Detail in diesem Bericht ist besonders interessant: Schafhäutl, der die zur Ausstellung eingesandten Streichinstrumente beurteilte und an den Meisterwerken des „Vaters der deutschen Geige“ maß, erwähnt: „Stainers Grabdenkmal sah ich noch vor wenigen Jahren an der Mauer des Leichenackers seines Geburtsortes.“ Dieser Nachsatz Schafhäutls verweist auf das bunte Treiben der Stainer-Konstrukteure in Tirol: Nachdem durch die Publikation von Sardagnas Notizen Bruchstücke einer Stainer-Lebensgeschichte publik geworden waren, musste im damals schon ‚heiligen Land‘ der Ordnung halber eine das Leben des ‚Meisters‘ handgreiflich umklammernde Spur geschaffen werden. Schließlich endet nur ein ordentliches Leben in einem ordentlichen Grab. Die fragmentarische ‚Wahnsinnsbank‘, das bis dahin einzige Stainer-Artefakt, hat man daher 1842 am Absamer Friedhof um ein historisierend gefälschtes Grab des ‚Meisters‘ ergänzt. Dieser erste gefälschte Stainer-Grabstein konnte aber Schafhäutls Diktum vom Ursprung einer von ihm postulierten ‚deutschen Geige‘ noch nicht berücksichtigen. Daher wurde Fälschung Nummer eins um 1900 durch eine zweite, monumental ausgeführte, ersetzt. Bis heute findet man das ‚Grab‘ des „Vaters der deutschen Geige“ unkommentiert an der Nordseite der Absamer Kirche.

Gut versteckt an der Fassade: Eine Tafel am Absamer Stainer-Haus, die seit 1880 mehr über die zeitgebundene Sicht auf Stainer im 19. Jahrhundert erzählt als über den, an den sie erinnern soll. (Bild: Matthias Breit)

Bausteine zu einer Identität II: Deutsches Gemüth…

Hatte man im katholisch-konservativen Tirol ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit zwei Fälschungen für Grabesruhe und Ordnung gesorgt, konstruierten deutschnationale Kreise aus den Stainer-Bausteinen immer wieder neues ‚Wissen‘. 1880 erklärten Innsbrucker Musikverein und Innsbrucker Liedertafel Stainer zum „wahren Repräsentanten deutschen Bürgerthums“. Das vor allem in der Literatur immer wieder variierte Motiv der Ausbildung Stainers in Italien integrieren die treudeutschen Sänger 1880 folgendermaßen in ihr Weltbild: „So hatte Stainer Gelegenheit, die italienische Geige kennenzulernen; allein deren Klänge hatten seinem deutschen Gemüthe nicht vollkommen zugesagt, er sann und sann, baute und arbeitete und schuf so die deutsche Geige.“ 1911 wird dann der Begründer des Musikalien-Kabinetts im Ferdinandeum, der Arzt Franz Waldner, großspurig den vermutlichen Italien-Bezug Stainers als vollkommen irrelevant verwerfen: „Es ist ziemlich gleichgiltig, wer Stainer zuerst die Mechanik des Geigenbaues lehrte; sein weiterer Lehrmeister wurde er selber.“ War Italien bisher in der Stainer-Literatur der Ort der wahren oder unglücklichen, der verschmähten oder hintertriebenen, der glücklichen oder heimlichen Liebe des armen Stainer (mit all ihren Konsequenzen) gewesen, reizt Waldner das Italien-Motiv bis an die Schmerzgrenze aus, wo es sich schließlich umdreht: Er erklärt kurzerhand Tirol (und nicht Italien) zur „Werkstätte“, wo der wahre Erfinder der Geige zu suchen sei. Waldner lieferte mit seiner rund um Stainer konstruierten These ein schönes Beispiel für moderne Theorien, die Nation letztlich als „kümmerliche Einbildungen der jüngeren Geschichte“ definieren. Aber auch bei Waldner gilt, was auf alle kruden Stainer-Konstruktionen zutrifft: Sie greifen immer auf aktuell verfügbare kulturelle Interpretationsmuster zurück. Bei Waldner ist es vor allem der Prager Historiker Edmund Schebek, der bereits 1874 eine „historische Skizze“ mit dem programmatischen Titel Der Geigenbau in Italien und sein deutscher Ursprung gezimmert hatte.

Die Meldung über die Stainer-Erinnerungstafel erreicht die in Tirol selten gelesene Arbeiterzeitung im Jahr 1898 über Frankfurt. (Arbeiterzeitung, 19.07.1898)

Zusammenfassend kann man das in der Einleitung beklagte „fast undurchdringliche Dickicht“ aus mündlicher Überlieferung, Vermutungen, Dichtungen, missverständlich ausgelegten Urkunden, üppigen und weniger üppigen Phantasien, das zwischen 1790 und 1910 rund um den Geigenbauer Jacob Stainer niedergeschrieben worden ist, vielleicht auch ganz banal erklären: Die Polizisten, Juristen, Beamten, Physiker, Geologen, Geistlichen, Ärzte, Historiker und Schriftsteller, die sich um Stainer bemüht hatten, wollten letztlich ein Bild der Vergangenheit konstruieren, das sich im Einklang mit den herrschenden Gedanken ihrer Gesellschaft befinden sollte.

Matthias Breit

Literaturnachweis

Neue Berliner Musikzeitung, herausgegeben von Gustav Bock, unter Mitwirkung theoretischer und praktischer Musiker. Achter Jahrgang 1854. Berlin.

Sebastian Ruf: Der Geigenmacher Jakob Stainer von Absam in Tirol. Geboren 1621 – gestorben 1683. Eine Lebensskizze. Innsbruck 1872.

Walter Senn, Karl Roy: Jakob Stainer. Leben und Werk des Tiroler Meisters, 1617–1683. Frankfurt a. M. 1986.

Jakob Stainer – Von der Schwierigkeit der Biografie. Drehbuch: Bert Breit. Regie: Otto Anton Eder, Bert Breit u. Wolfgang Steuer. ORF und ZDF 1971.

Österreich’s Pantheon. Gallerie alles Guten und Nützlichen im Vaterlande. Authetische Notizen über das Leben und Wirken der ausgezeichneten Staatsbeamten, Krieger,  Literatoren und wohlverdienten Privatmänner des Kaiserstaates in den neueren und neusesten Zeiten. Erster Band.  Wien 1830. S. 154f.

Der kaiserlich königlich privilegierte Bothe von und für Tirol und Vorarlberg, 89., 7. 11. 1822, S. 356.

Ebd. S 356.

Johannes Schuler: Jakob Stainer. Novelle. In: Alpenblumen aus Tirol, ein Taschenbuch für das Jahr 1829. Innsbruck 1829. S. 271f.

Der kaiserlich königlich privilegierte Bothe von und für Tirol und Vorarlberg, Nr. 89., 7. November 1822. S. 356.

August Lehwald: Der Abend in Absam. In: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 298, 13.12.1834.  Das Morgenblatt war mit seiner Auflage von 2.500 Exemplaren, davon etwa 1.400 Abonnements, das führende literarische Unterhaltungsorgan in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es erschien von 1807 bis 1865 in Stuttgart und Tübingen im Verlag der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung, einem der einflussreichsten deutschen Verlage dieser Zeit.

Karl Emil von Schafhäutl: Instrumente. In: Fr. B. W. von Hermann (Hg.): Bericht der Beurtheilungs-Commission bei der Allgemeinen Deutschen Industrie-Ausstellung zu München. München 1854. S. 124

Innsbrucker Nachrichten,  12.10.1880,  S. 3202.

Ebd., S. 3202.

Franz Waldner: Nachrichten über tirolische Lauten- und Geigenbauer. Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg. III. Folge, 55. Heft. Innsbruck 1911. S. 89.

Ebd. S. 3.

Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation.  Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Berlin 1998. S.17.

Edmund Schebek: Der Geigenbau in Italien und sein deutscher Ursprung. Selbstverlag. Prag 1874.

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